Dushan-Wegner

03.08.2021

»Hört auf die Wissenschaft!«

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Foto von Aubrey Odom (Marthas Vineyard)
»Hört auf die Wissenschaft« ist Code für: »Ordnet euch unter und haltet die Klappe!« – Wissenschaft ist aber das Gegenteil von blindem Gehorsam und Unterordnung. Wissenschaftliches Denken bedeutet heute praktisch: Prüfe alles, glaube wenig, denke selbst!
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Mein Sohn sagt: »Bro!« – das sagen die jungen Leute heute so. »Bro!« das steht wörtlich für »Brother«, stammt also aus dem Englischen, und wird »brou« angesprochen – mit wechselnder Intonation.

Tatsächlich ist es aber ein ultra-polysemes Wort – es kann sehr vieles bedeuten, ähnlich wie ein englisches Wort, das gelegentlich als »f**k« umschrieben wird, aber anders als jenes böse Wort klingt »bro« in den Ohren von Eltern und Lehrern ausreichend harmlos. (Mein Vater, würde mich ernsthaft tadeln, wenn ich nicht hier erwähnte, dass im Slawischen das Wörtlein »kurva« auf ähnliche Weise viele verschiedene Funktionen erfüllen kann, ja als einziges Wort die Grundlage vollständiger Gespräche sein kann.)

»Bro!«, das könnten Wiener mit »Oida!« vergleichen, was wörtlich »Alter!« heißt, und ähnlich viele unterschiedliche Bedeutungen tragen kann, je nach Situation und Melodie (dazu, via YouTube und auf English: das endgültige Oida-Video von Ewa Placzyńska).

»Bro!«, sagt mein Sohn zu mir, wenn er sein Zimmer aufräumen soll (ja, jeden Tag). »Bro!«, sagt mein Sohn zu seinem Kumpel, wenn der ihm eine Neuigkeit berichtet hat. »Bro!«, sagt mein Sohn, wenn er erfährt, dass Julia und Romeo sich beide vergifteten.

Jede Zeit, jede Kultur und wohl auch eine jede Generation haben ihre eigenen, besonderen Worte, die ein jedes viele verschiedene Dinge bedeuten kann.

Wo wir aber gerade von Sprachkonstrukten reden, die tatsächlich wohl etwas ganz anderes als den unmittelbaren Wortsinn bedeuten, wären wir untrüglich bei den Nachrichten des Tages angelangt, Bro!

Keule eines behaupteten Konsenses

Was ich (noch?) nicht von meinen Sohn höre, wohl aber aus dem PPP-Komplex (»Politik, Presse, Propaganda«), ist die Forderung, man solle doch bitte »auf die Wissenschaft hören«. – Man hört es ja heute aus allen Ecken, wo gewisse Interessen etwas durchsetzen wollen!

Wenn Greenpeace nicht gerade Farbe in die Berliner Kanalisation kippt (tagesspiegel.de, 27.6.2018) oder für einen buchstäblichen »PR-Stunt« konkrete Menschenleben gefährdet (welt.de, 16.6.2021), dann fungieren sie als Sprachrohr offenbar gelangweilter Töchter aus reichem Hause. – »Bitte hört auf die Wissenschaft!«, so durfte Frau Neubauer via Greenpeace fordern (greenpeace-magazin.de, 12.3.2019), »dass dieser Druck bestehen bleiben muss«, wofür »wir« dann »eine gewisse Radikalität im Protest« bräuchten.

81 Prozent der Deutschen sagen angeblich, so berichtet der Staatsfunk: »Politik soll auf Wissenschaft hören« (mdr.de, 28.4.2021; es geht um die Corona-Maßnahmen). Auch Frau Merkel ist angeblich darum bemüht, »die Empfehlungen der Wissenschaft ernst zu nehmen« (bundesregierung.de, 9.12.2020). Und natürlich wird auch ein Herr Lauterbach nicht müde, die Keule eines behaupteten Wissenschaft-Konsenses gegen seine politischen Gegner zu schwingen (rnd.de, 31.7.2021: »Lauterbach über Aiwanger: »Stellt sich gegen den Konsens der Wissenschaft««).

Es ist ja wahrlich nicht nur ein deutsches Phänomen, diese emphatischen Aufrufe, auf eine überraschend einstimmig klingende »Wissenschaft« zu hören! Der Drohnenkrieger Barack Obama rief schon immer gern dazu auf, ob 2009 zum Klima (siehe fic.nih.gov, 02/2009) oder in diesen Jahren zu Corona. (Siehe @BarackObama, 4.3.2020 – damals rief er übrigens dazu auf, die Masken dem Gesundheitspersonal zu überlassen, aber auch ruhig zu bleiben und der Wissenschaft zu folgen; mittlerweile sagt »die Wissenschaft« in den USA wieder, dass alle die Masken tragen sollen, unabhängig vom Impfstatus, siehe @CBSNews, 2.8.2021.)

Was nicht passt…

Was bedeutet es aber, dieses »Hören auf die Wissenschaft«. Ach, wir müssen wirklich nicht neu debattieren, wie der angebliche »Konsens« von Wissenschaftlern nicht selten zustande kommt (siehe etwa heise.de, 8.11.2020: »Klimatismus und der Mythos vom 97%-Konsens«).

Jedoch, es kommt tatsächlich vor, dass Wissenschaftler in Kommissionen berufen werden, deren Einschätzung der Fakten (und der Moral) gegen die Absichten der Politik gehen, aber aus diesem oder jenem Grund nicht sofort entlassen werden können.

Aktuell will die Politik unbedingt auch Kindern die mRNA-Impfung injizieren, explizit ohne den entsprechenden Rat der Ständigen Impfkommission (welt.de, 3.8.2021). Wir erleben live und in Echtzeit, was »Wissenschaft« im politischen Kontext heute bedeutet; der Chef der Ständigen Impfkommission hofft, dass diese »es in den nächsten zehn Tagen schaffe, die Empfehlung zu überarbeiten«. Man denkt an die alte deutsche Redeweise: Was nicht passt, wird passend gemacht – auch wissenschaftliche Meinungen.

Es ist inzwischen so müßig wie repetitiv und banal, Thesen dazu aufzustellen, dass es nicht wirklich um Gesundheit und faktische Kausalität geht.

In welt.de, 2.8.2021 (€) wird etwa kritisch gefragt, was bei der organisierten Diskriminierung von Ungeimpften mit jenen geschehen soll, die sich nicht impfen lassen können, Schwangere etwa. Diese dürfen doch nicht benachteiligt werden! – Allein durch die Frage haben die Autoren dokumentiert, dass es ihnen zumindest offenbar nicht um Fakten und Kausalität geht, sondern um Gehorsam und die Moral der Unterordnung.

(Geradezu lustige Randnotiz: In Großbritannien wird debattiert, dass Veganer aus Glaubensgründen von Pflichtimpfung in Unternehmen ausgeschlossen sein müssen; siehe standard.co.uk, 30.7.2021.)

Bis der Wind drehte

»Man kann sich darauf verlassen: Wenn Politiker oder Journalisten die Bibel zitieren, wird es schräg bis unfreiwillig komisch«, so schrieb ich im Essay vom 19.3.2018. Wenn Politiker (oder manche Geistlichen) sich auf die Bibel oder Jesus berufen, können wir davon ausgehen, dass es ein Vorwand ist, mit dem sie ihre jeweils aktuellen Absichten moralisch schminken wollen.

Auf welche »Wissenschaft« soll man denn hören? Auf Robert Malone, einen frühen mRNA-Forscher? Ach nein, der gilt jetzt als böse, seit er die »Impfung« kritisiert (siehe Wikipedia). Auf den Virologen Sucharit Bhakdi? Nein, natürlich auch nicht auf den, der hat etwas (wirklich) Doofes über Israel gesagt. Auf Dr. Wolfgang Wodarg, der noch im März 2020 im deutschen Staatsfunk vor übertriebener Corona-Panik warnte (ZDF.de, 10.3.2020), bis der politische Wind drehte und der Staatsfunk brav auch seine Meinungsmaschine um 180 Grad drehte.

Oder soll man auf Luc Montaigner hören, Entdecker von HIV und Nobelpreisträger? Montaigner wurde unter anderem für seine These fertiggemacht, COVID könnte aus einem Labor in Wuhan stammen (science.thewire.in, 22.4.2020). unherd.com, 2.8.2021 fragt übrigens: »Did the New York Times stifle lab leak debate? Were commercial relationships with China a factor?« – zu Deutsch: »Hat die New York Times die Debatte um das Labor-Leak unterdrückt? Waren wirtschaftliche Beziehung zu China ein Faktor?«

Der US-Publizist Dinesh D’Souza fragt auf Twitter (@dineshdsouza, 1.8.2021, von mir ins Deutsche übertragen): »Wenn, wie es jetzt scheint, das Covid-Virus aus einem Labor in Wuhan kommt, als Konsequenz sogenannter ›gain of function‹-Forschung, ist dann nicht ›der Wissenschaft vertrauen‹ wie wir überhaupt an erster Stelle in eine globale Pandemie gerieten?«

Eine unwissenschaftliche Party

Wie hält es eigentlich die »Hört auf die Wissenschaft«-Fraktion in eigener Sache mit dem »Hören auf die Wissenschaft«?

Nun, als ein Beispiel von viel zu vielen: Barack Obama plant aktuell die Feier des eigenen sechzigsten Geburtstags (thepostmillenial.com, 2.8.2021), natürlich im Luxus auf Marthas Vineyard. – Geplant sind aktuell 500 Gäste, gegen die expliziten Empfehlungen der US-Gesundheitsbehörde CDC. »Hört auf die Wissenschaft« – außer die Wissenschaft stört die Wichtigen bei ihrer Macht, ihren Vorhaben… oder einfach nur ihren dekadenten Feierlichkeiten. (Kann sich noch jemand an eine gewisse Feier in einem gewissen Berliner Restaurant erinnern? War da was, Internet?)

»Hört auf die Wissenschaft« hat »Jesus würde XY tun« ersetzt. »Jesus würde grün wählen«, so twitterten die Magdeburger Grünen letzten Ostersonntag. Man löschte den Tweet (doch das Internet vergisst nicht, siehe etwa @Steinhoefel, 1.5.2021). Es ist ja auch eine altmodische Formulierung. Heute sagt man: »Hört auf die Wissenschaft – und die gibt immer uns recht, selbst wenn es irrsinnig, unlogisch und, äh, zutiefst unwissenschaftlich ist.«

Es ist nicht unscharf

Die Bedeutung von »Bro«, wie mein Sohn und seine Freunde es verwenden, ist keinesfalls unscharf.

Die Bedeutung von »Bro« ist immer präzise, doch der Wortlaut allein transportiert nicht die ganze Aussage (und gewiss nicht einen darin enthaltenen Witz). Um die ganze Bedeutung der Ultra-Polyseme zu verstehen, muss man die Sprechsituation selbst kennen, muss selbst dabei gewesen sein. Oder, wie mein Sohn es sagen würde: »Bro, you had to be there!« – Was »Bro!« aber praktisch nie bedeutet, ist »Bruder« (deshalb ist es lustig, wenn unsere Tochter es zu ihrem Bruder sagt – er kann dann nur schwer wortgleich antworten).

Wenn heute also gesagt wird, man solle »auf die Wissenschaft« hören, dann bedeutet es oft etwas ganz anderes, als die realen Debatten von Wissenschaftlern auszuwerten, sie zu debattieren und anzuwenden.

Jedoch, vertun wir uns nicht! Nur weil der Begriff der Wissenschaft so eklatant missbraucht wird, ist die Wissenschaft ja nicht unnütz oder untätig geworden. Es gibt sie ja noch, die Wissenschaftler, zu deren ersten Anliegen nicht gehört, der Politik zu gefallen und in Talkshows zu sitzen.

Der Heidelberger Chef-Pathologe Peter Schirmacher etwa fordert aktuell mehr Obduktionen von Geimpften (aerztezeitung.de, 1.8.2021). »Er geht von einer beträchtlichen Dunkelziffer an Impftoten aus«, so heißt es, und weiter: »Mehr als 40 Menschen habe man bereits obduziert, die binnen zwei Wochen nach einer Impfung gestorben sind. Schirmacher geht davon aus, dass 30 bis 40 Prozent davon an der Impfung gestorben sind.« – Wir können uns vorstellen, dass nicht nur Epstein-Freund und Pharma-Investor Bill Gates das doof findet, sondern auch einige Leute in der deutschen Politik sehr dagegen sind (und ihre als »Journalisten« getarnten PR-Söldner auf diesen Wissenschaftler ansetzen werden).

Tugend und Gewohnheit

»Bro!«, sagt mein Sohn, und es liegt an mir, ob ich verstehe, was er eigentlich sagen möchte.

»Hört auf die Wissenschaft!«, sagen Politik, Presse und Propaganda, und wir beginnen recht genau zu ahnen, was sie sagen möchten. Hört auf die Wissenschaft und lasst euch impfen, bekommt dafür gratis Bratwürste oder Fastfood-Menüs (was spannend ist, wenn man doch angeblich die Gesundheit der Bürger im Fokus hat) – aber fragt ja nicht nach wissenschaftlichen Langzeitstudien, echten Antworten auf eure  Bedenken oder nach bloßer Haftung für die Folgen der ach-so-wissenschaftlichen Umprogrammierung eurer Zellen.

»Die Wissenschaft« ist aber keine einzelne Institution, keine Firma und auch keine Kirche. »Die Wissenschaft« ist eine Denkweise, sie ist die wissenschaftliche Methode, sie ist die Tugend und Gewohnheit, das Netzwerk der eigenen Überzeugungen unablässig mit dem Faktengewebe der Realität abzugleichen.

Ziel und Zweck der Wissenschaft ist es, das eigene Reden über die Realität immer näher an eben diese anzupassen. Am Ende gewinnt immer die Realität – und »Wissenschaft« ist schlicht der Versuch, sein Denken vorab und rechtzeitig in Einklang eben mit der Realität zu bringen.

Vertun wir uns aber keine Sekunde lang: Ich habe kein Viren-Labor zur Verfügung, Sie vermutlich auch nicht. Ich habe nichts mit Viren studiert und die meisten von Ihnen auch nicht. Wir werden, um heute klüger zu sein als gestern, eben doch auf die Erkenntnisse von tatsächlichen Wissenschaftlern zurückzugreifen.

Es bleibt uns aber wenig anderes übrig, als all die Meldungen (»eine neue Studie zeigt«) selbst zu prüfen, zu »triangulieren« und Glaubwürdigkeit einzuschätzen – und dann selbst eine Wahl zu treffen.

Prüfe alles, glaube wenig, denke selbst – es bleibt auf absehbare Zeit ein guter Rat, Bro!.

Weiterschreiben, Wegner!

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